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Sonntag, 9. Mai 2010
Rennsteiglauf 2010 - Supermarathon 72,7km
bemir, 14:35h
Ich kann nicht fassen, dass es vorbei ist. Nicht nach meinem Zieleinlauf nach 7:56:31h, nicht heute, am Tag danach. "Da muß doch jetzt was kommen. Was Neues, was genau so Schönes". Gestern abend, 23:00 Uhr in der Badewanne studiere ich die Werbeprospekte, die ich mit den Startunterlagen bekommen hatte. Von einigen Bergläufen ist da die Rede, im Karwendel, Fichtelberg, Harzmarathon... Vielleicht sind meine Gedanken noch nicht zur Ruhe gekommen. Vielleicht galoppieren sie ja noch weiter, Schritt um Schritt, so wie gestern.
Freitag, 7.5.2010:
Gegen 17:30 Uhr mache ich mich auf den Weg nach Eisenach. Etwa 240km von Nürnberg aus, 2/3 Autobahn. Bamberg, Coburg und dann in den Thüringer Wald. Die letzten 80km Landstrasse. Tiefer "Osten", einige zusammengefallene Fabrikgebäude. Daneben viel Neues, viele neue Eigenheime.
Bis 21:00 kann ich die Startunterlagen am Marktplatz im Rathaus abholen, sonst wieder am Samstag, ab 4:00 Uhr.
Um 20:00 Uhr hab ich alles in den Händen und muß mich um eine Übernachtung kümmern. Hotels sind mir zu teuer. Im Auto auf irgendeinem Parkplatz in der Nähe des Startplatzes erweist sich als schwierig: alles mit Parkschein, höchtens 3 Stunden. Da Samstag der Lauftag ist klappt das so nicht.
Mit Google-Ausdrucken von Eisenach wurschtel ich mich zum Elisabeth-Gymansium durch. Hier ist die "Massenunterkunft". Für 4€ übernachten mit Frühstück, Klo inklusive. Für 2€ im überfüllten Hof parken. Mach ich - und werd im Auto schlafen. Keine Schnarcher um mich herum. Ich find buchstäblich den vorletzten freien Platz, schön am Rand, alles perfekt. Nach einigem Gewurschtel hab ich heraus, wie ich im Auto ausgestreckt und gemütlich in meinem Schlafsack nächtigen kann. Es folgt ein langes Ritual, in dem ich jeden Gegenstand des Laufes aus den Taschen finger und an eine fixe Position im Auto positioniere - damit ich morgen um 4:30 Uhr auch alles griffbereit habe und nicht mehr suchen muß.
Gegen 22:30 Uhr hab ich dann alles. Rein in den Schlafsack und versuchen zu schlafen. Lange liege ich wach, denke an den Lauf. Ob ich es schaffen werde ? - Irgendwann verstummen die Geräusche um mich herum (Strasse, Türgeklapper der anderen Parkenden) und ich falle in Schlaf bis 2:30 Uhr. Dann wieder Schlaf bis 4:00 Uhr.
Samstag, 8.5.2010
Um 4:00 Uhr stehen die 2 Läufer neben mir im VW-Bus auf. Klar, Kommunikation in voller Lautstärke. Mein Gott, ihr Heinis, habt ihr nicht gerafft, das ihr die Ersten seid ? - Klappe halten ! - Aber nichts dergleichen. Absprachen in Normallautstärke, von wegen Rücksicht. Klappern, Türe auf und zu, etc. Es ist einfach Schluss mit schlafen. Um 4:20 Uhr wühle ich mich aus dem Schlafsack.
Durch das Ritual am Vorabend hab ich alles mit wenigen Handgriffen parat. Ich werde in kurzer Hose laufen, mit meinem Ötztaler-Radmarathon-Trikot (wegen der Trikottaschen, in denen ich meine Taschentücher, meine Sonnebrille und mein Geld mitnehmen werde). Darüber meine GORE-Radweste zusammen mit den GORE-Armlingen. Auf dem Kopf, wie immer, meine ausgelutschte Adidas-Kappe.
Um die Hüfte hab ich meinen Laufgurt: eine Radtrinkflasche mit 0,7l Isogetränk, im kleinen Täschchen ein Powerbar in Cola-Geschmack, ein kleiner weiterer Powerbar in irgendwas als Reserve und zwei Power-Gels.
Auf dem Boden neben dem Auto koche ich mir eine Tasse Espresso mit meinem Gaskocher. Ein Müsli-Riegel und ein Stück Brot sind mein Frühstück, dazu noch einen Banane.
Um 5:15 Uhr fahren wir mit dem Shuttle-Bus zum Marktplatz, wo wir um 5:30 Uhr eintreffen. Eine halbe Stunde Zeit, nicht zu frieren, den Gepäckbeutel mit den Sachen für das Ziel abzugeben (Fleece-Jacke, Handtuch, Wechel-T-shirt) und sich die Mitstarter anzugucken. Nervöses Rumgelaufe in immer kleiner werdenden Kreisen. Der Platz füllt sich, bis etwa knapp 2.000 Starter eingetroffen sind. Die letzten bringen Minuten vor dem Start noch schnell ihre Beutel zu den 4 LKW mit den Gepäcktaschen...
Neben der ganz grausamen Musik (Lieder vom Rennsteig) verkündet der Sprecher auch einige Daten zu den Läufern. So ist der älteste Läufer am Supermarathon 75 Jahre alt, die älteste Läuferin 70 Jahre. Der jüngste Starter ist 20 Jahre alt, die jüngste Läuferin 24 Jahre. Und einige Läufer nehmen heuer zum dreißigsten mal am Rennsteiglauf teil... das werd ich sicherlich nicht tun.
Zum Schluss noch ein kurzes Grußwort von "was-weiß-ich-wem", interessiert mich auch nicht. Dann zählt die Menge herunter "10-9-8...." und mit dem Glockenschlag fällt der Startschuss pünktlich um 6:00 Uhr. Um 6:02 passiere ich die Startlinie, und dann gehts endlich los.
Es ist ein nasser Tag, ohne das Regen fällt. Ganz Eisenach liegt im frühmorgendlichen Nebel, die Straßen sind nass und gespickt mit Pfützen. Kalt ist es nun nicht mehr. Nach einigen wenigen Kurven durch die Innenstadt geht es gleich heraus und in den Wald. Nach wenigen hundert Metern vom Start geht es in die Steigung, die die nächsten 25km andauern wird. Eisenach liegt auf 202 MüdM, der Inselsberg bei km25,5 auf 910 MüdM. Wellenförmig steigt der Weg also bis zu diesem Punkt an. So kurz schon nach dem ersten Start in die Steigung gehen heißt aber auch, dass sich schnell ein erheblicher Rückstau bildet. Zum einen werden die Straßen schnell zu Wegen und Pfaden, zum anderen überraschen mich die meisten Teilnehmerinnen völlig damit, das sie an den Steigungen NICHT mehr LAUFEN, sondern GEHEN. Zuerst verstehe ich nichts. "Kann doch nicht sein, das bei einem Supermarathon etwa 2/3 der Läufer-Innen alles verpeilt haben und nach noch nicht mal einem Kilometer schon gehen müssen ?!?" - aber die Geher in dieser Menge müssen wohl ein System haben, Zufall kann das nicht sein. Da aber Jeder / Jede so lange läuft wie er / sie will und dann unvermittelt auf dem schmalen Weg das Gehen beginnt, sowohl links als auch rechts als auch in der Mitte, wird es schwierig, sich durch das alles durchzuschlängeln. Daher nerven mich die Geher auch in kürzester Zeit, egal welches System sie verfolgen mögen. "Alle jetzt weg da !" denke ich mir und suche mir immer winzigste Durchschlüpfe in der Menge, um eben doch nicht gehen zu müssen. Ich will in meinen Rhythmus und in dem will ich bleiben.
Also: weg da jetzt !
Himmel, ich will LAUFEN und nicht GEHEN !
Zwar habe ich von Beginn an meine Kopfhörer auf den Ohren, aber jetzt noch ohne Musik. Ich rechne mit etwa 8-9h Laufzeit - WENN ich ankomme - also möchte ich mich mit meiner eigenen Beschallung noch zurückhalten.
So langsam sortiere ich mich in meinen Rhythmus, in die Steigungen und kleinen Gefälle; ich komme an im Gelände und im Lauf. Ich kann nicht wirklich sagen, von der Landschaft viel mitbekommen zu haben. Wie ein Film läuft die Umgebung an mir vorbei. Das liegt zum einen an der Beschäftigung mit mir selber, und auch am hartnäckigen Nebel. Bis ins Ziel wird er bleiben; erst im Bus auf der Rückfahrt reist die Wolkendecke auf.
Allerdings ist der sehr schöne Wald und das ein oder andere Nebental zum Teil gut zu erkennen. Es erinnert mich stellenweise stark an der Schwarzwald, wenngleich es hier mehr Mischwald zu geben scheint. Immer wieder tauchen im Nebel großartige Eichen auf. Majestätisch laden ihre Äste aus. Der Weg verändert sich immer wieder. Kurz laufen wir über ein Wiesenstück, dann Trampelpfad, wurzeldurchsetzte Waldwege, Forstwege.
Klimatechnisch läuft es für mich hervorragend. Die Nässe nimmt der Luft die lästigen Pollen, meine Kleidung ist ideal. Die GORE Weste und Armlinge empfinde ich als überragend. Zwar haben sie schon fast unverschämt viel Geld gekostet, sind aber jeden Cent wert. Ich zippe nur leicht am Reißverschluss, und schon stellt sich die Temperatur ideal für mich ein. Weder friere ich noch wird mir zu warm. Alles prima. Sollte es regnen, so würde mich das Material auch vor dem auskühlen schützen, so fern ich nicht stehen bleibe. Werd ich aber nicht, und es kommt auch keine neue Feuchtigkeit heute von oben dazu.
An den Steigungen sortiert sich noch immer alles in Geher und Läufer, wobei die Geher klar in der Überzahl sind. Zwar nerven die mich noch immer ganz erheblich, aber langsam wird es besser mit dem Platz zum Laufen und so geht das "genervt-sein" über in leichte Freude; bergauf ist meine Stärke, und jetzt kann ich es einfach jedem Geher besorgen. Ha ! - die Wirkung der kleinen Freuden (und der kleinen Niederlagen) ist auf dieser Distanz ganz erheblich für mich.
Zwischen all den Gehern kristallisieren sich die Läufer langsam heraus. Unter ihnen auch eine junge Frau, ich schätze mal so um die Anfang Dreißig. Mit ihrer Erscheinung würde sie auch auffallen, wenn sie gegangen wäre. Schmal und schlank, blau-weißes Trikot, kurze blaue Laufhose, weiße Knielinge, Mütze und ein blond geflochtener Zopf.Die Bewegungsabläufe schienen immer gleichbleibend ruhig und harmonisch zu verlaufen, egal welcher Untergrund. Nichts schien schwierig, auch die Brille ist bestimmt nie verrutscht. Immer alles akkurat, im Lot, kraftvoll und auf Gleichklang.
Interessant war auch ihr Partner, in der Kleidung ganz das Gegenteil: Schlabber-T-Shirt, ausgebeulte Sporthose (wie früher in der Schule), und dunkle Sonnenbrille. Später begegnete mir das Paar immer wieder; am Ende waren sie einige Minuten vor mir im Ziel.
Ansonsten sind auf dem Rennsteig verdammt viele "Normalos" unterwegs. Leute, denen man ihren Willen und ihre Ausdauer nicht unbedingt ansehen würde. Leichter Bierbauch, viele im Alter wie ich oder noch älter. Hier bewahrheitet sich der Spruch, wie er auch auf dem Rennrad gilt: alte Leut' mit silbergrauen Haaren und allerwelts-Sportmaterial von vor 30 Jahren sind mit die schärfsten Konkurrenten. Ihre Optik entspricht in keiner Weise ihrem Leistungsvermögen. Statt zappeliger Hektik mit pseudosportlichen Vorbereitungen und Halbwissenschaften gehen da Erfahrung an den Start. Es hat durchaus etwas von "in der Ruhe liegt die Kraft", auch wenn das bei einem solchen Ausdauer- Sportgroßereignis etwas komisch klingen mag. Schließlich ist alles voller Elan und Bewegung.
Der Lauf auf dem Rennsteig verschwimmt für mich in eine zeitlich nicht näher zu definierende Blase aus Erinnerungen an Gefühle und Zustände, nicht aber in Kilometerabschnitte oder Landschaftspunkten.
Kurz gesagt gab es einfach verdammt viel Wald um mich herum. Wunderschönen Wald, der kaum durch Straßen oder Ortschaften unterbrochen wurde. In diese Szenerie eingepflanzt ist ein Bild von gleichmäßig schnell laufenden Menschen um mich herum, von denen ich meist die Füße in Erinnerung habe. Ein pulsierendes Etwas um mich, ich selber auch im Puls von Bewegung, Atmung. Rundes Laufen, nichts als Laufen.
In der Vorbereitung auf den Lauf habe ich nur einen Bericht im Internet gelesen; dort lief ein etwas Jüngerer in einer etwas schnelleren Zeit, 7:30h glaube ich, auch zum ersten mal. Er beschreibt dort, "irgendwann trennt sich der Geist vom Körper. Während unten der Körper ganz mit Arbeit und mit Laufen beschäftigt ist, hebt der Geist ab und betrachtet das Ganze aus einer anderen Perspektive...". So oder so ähnlich hat er es formuliert. Ich konnte mir das gut vorstellen, und so ein wenig habe ich auf diesen Moment dann immer gewartet. Doch während des Laufes habe ich es so nicht empfunden. Ich war viel zu beschäftigt. Nicht nur damit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sondern mit einer Unzahl von Bagatellen und Kleinigkeiten, die aber wiederum alle ganz wichtig sind und unmittelbar auf das Laufgefühl ausstrahlen: die Kappe zurechtrutschen, einen Schluck trinken (dazu die Flasche während dem Laufen aus der Halterung angeln und anschließend wieder sicher hinein), ein Stück Powerbar abbeißen und langsam zergehen lassen, die Kilometertafeln im Auge behalten, im Trikot nach der Plastiktüte fingern, in der das Geld und das Rückfahrtticket sitzt, die unmittelbare Wegstrecke einschätzen und Hindernissen ausweichen (Steinen, Wurzeln, Pfützen), den Puls kontrollieren, die Weste ideal temperieren durch den Reißverschluss, den Rotz aus der Nase pusten und dabei vorher umsehen, dass niemand getroffen wird. Die nächste Versorgung anvisieren und kurz vorher noch ein Stück Powerbar abbeißen, damit man dann gleich mit Wasser oder Tee nachspülen kann. Die Zeit vergleichen und in etwa hochrechnen, welche Finisherzeit momentan dann zu erreichen wäre. Bäume angucken, Mitstreiter angucken, in sich horchen. Gedanken nachhängen. Sich selbst motivieren.
Bis zur Mitte des Rennens wollte ich ohne großes Denken erst mal einen normalen Marathon bewältigen (also km42) und mir dann Gedanken über das Neuland machen, in das ich mich da bei den weiteren 30km begeben habe.
Ziemlich genau in der Mitte gab es eine Versorgungsstation auf einer Wiese, bei der ich zwar alles noch im Laufschritt geangelt habe, ohne anzuhalten, aber kurz nach dem Verzehr dann bewusst angehalten habe und mir einen Baum abseits zum pinkeln aussuchte. Da war mir zum ersten mal klar, dass ich zumindest die Marathondistanz klar erreichen werde, und das ich überdies noch sehr gut dabei bin: ich fühlte mich angestrengt, aber grundsätzlich prima. Keine Beschwerden, kein Drücken, kein nichts. Einfach Wald und Laufen. Also weiter.
Die blonde Läuferin begegnete mir immer wieder. Einmal hielt sie am Wegesrand und schaute "not amused" nach hinten, wo ihr Partner/Begleitschutz abgeblieben sein möge. Sie band ihren Schuh neu und überholte mich später wieder mir ihrem Partner. "Wipp wipp wipp", wie auf den ersten Kilometern. Faszinierende Gleichförmigkeit und Ästhetik in der Bewegung. "WIPP WIPP WIPP" und weg, verschwunden aus dem konzentrischen Kreis der Bewegungen um mich herum und in mir drin. Verschluckt im Wald und im Nebel.
Mit anderen Läufern teilte ich mir ein Stück des Weges, ohne es zu wissen. Man sieht sich, begegnet sich; man erkennt sich an der Kleidung, am Laufstil. Wer konnte an der letzten Steigung noch an mir vorbeigehen, wo sehe ich den wieder, wo kann ich ihn oder sie sogar noch einholen.
Eine andere Läuferin hatte zum Beispiel den Schriftzug "ich folge Jesus" auf ihrem Laufhemd stehen. Hinten drauf. Ich sah es erst, als sie mich überholte. Spontan dachte ich mir "ich nicht !", aber warum auch nicht. Warum sollte man nicht Jesus auf dem Rennsteig folgen. Ich freute mich, als ich die Läuferin wieder überholen konnte (und ich könnte im Nachhinein schwören, ich hörte dabei METALLICA "and nothing else matters...") und sie zog einige Kilometer vor dem Ziel, so etwa bei km55 wieder an mir vorbei. Endgültig. Sie war eindeutig schneller als ich.
Inzwischen haben sich die "Nordic-Walking-TeilnehmerInnen" auch auf der Strecke des Rennsteiges unter die Läufer gemischt. Wie kleine Wandertrupps sind sie unterwegs, manche mit Sportausrüstung und ausladenden Schritten, manche joggen sogar ein Teil des Weges. Nurmehr alle 5 Kilometer trägt ein Schild die Anzahl der zurückgelegten Entfernung.
Nachdem auch die Walkergruppe aufgetaucht, mitgelaufen und "tröpfchenweise" wieder aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, wird es wieder ruhig in mir. Ich bewege mich irgendwo zwischen km50 und km60. Langsam und allmählich wird es hart. Ich ertappe mich dabei, dass mein Blick immer häufiger zum (begrenzten) Horizont eilt. Das ist für mich ein sicheres Zeichen für Gedanken wie "wie weit ist es noch ?". Diese Gedanken zersetzen die Bereitschaft, im Lauf zu bleiben, drann zu bleiben und nicht anzuhalten. Deswegen tilge ich sie gleich wieder aus dem Bewusstsein. Ich seh nicht nach vorn sondern nach unten auf den Boden vor mir. Ich höre in die Musik hinein, die ich auf dem Kopf habe und blicke seitwärts, um mir die Bäume anzusehen.
Wenn nun kleinere Steigungen auf der Wegstrecke auftauchen, dann beginnen alle Läufer um mich, aus dem Laufen in das Gehen umzuschalten, bis die Steigung überwunden ist. Auch ich mache das so inzwischen. Fast schon sind mir die Steigungen mit dem Gehen willkommen, denn sie verweisen: GEHEN dürfen. Allerdings wird es immer anstrengender, aus dem Gehen wieder in Laufen zu wechseln. An einigen Stellen der Beine spüre ich, wie sie müde werden. Sie tun, was ich ihnen sage, aber sie melden zurück: "nun is aber auch bald mal gut". Keine Schmerzen, keine Belastungen, dumpfe Müdigkeit steigt in ihnen zu mir hoch in den Kopf. Auch das: gleich wieder tilgen. Erst gar nicht zulassen. Weg mit dem Gedanken. "Ich laufe. Ich werde laufen. Weiter..." und sofort wieder in den Lauf. Noch vor den anderen an der Steigung. Ich nehme mir vor, an der nächsten Steigung nicht wieder ins Gehen zu verfallen.
Irgendwann läuft "CREED" auf meinem IPOD, mit dem Lied "time". Obwohl es meine Atmung gefährlich aus dem Rhythmus bringen kann, kann ich nicht anders: stellenweise singe ich während dem Laufen mit, so laut wie ich kann:
"pieces of me i have lost...
without any choice i am the one...
hey time, you 're no friend of mine...
its so very clear,
you left me with noone at all...
will you be there when i stumble when i fall
who will be there
to catch me when i stumble, when i fall, when i fall...
this time i have nothing left to lose...
hey time, you're no friend of mine..."
Nach km60 komme ich an eine kleine Versorgung an einem Holzhäuschen im Wald. Breiter Waldweg, "Waldautobahn". Nur zwei, drei LäuferInnen vor mir. Am Häuschen die nette Versorgung und eine Familie mit ihren kleinen Kindern. Sitzen dort auf einer Bank und staunen über die Menge, die hier schon durchgetrabt sein muß. Das kleine Kind sitzt in der Kraxe, am Boden. Offenbar ist der Kleine eingeschlafen, die Augen geschlossen, der Kopf zur Seite geneigt. Wie Hannah und Sophie, damals bei uns. Das große Kind, ein Mädchen von 5-6 Jahren sitzt auf der Bank neben ihrem Vater und ißt irgendwas. Brötchen mit Wurst, so wie bei uns. Als ich zur Szene komme, nach Tee und Wasser hastend bei der Versorgung, schnell alles in mich reinkippe und mich schnellstmöglich weitermachen möchte, fällt mir die Familie auf; besonders das kleine Kind in der Kraxe. Eingeschlafen. Mitten im Wald, in der Kraxe. Wald, Nebel, Nässe. Tausende Verrückte, die durch den Wald hasten. Das Kind in Sicherheit. Eingeschlafen. irgendwie würde ich dem Vater nun gerne sagen, das er gerade dabei ist, mit seinen Kindern das eigentlich wesentliche im Leben zu erleben. Ich versuche einen Satz zu bilden wie "das ist eigentlich das Wesentliche" (und nicht das was ICH gerade hier mache). Aber statt Worten kommt nur ein dicker Klos in mein Hals. Tränen steigen mir in die Augen. Ich muß schnell weiter, ohne ein Wort. Trotzdem steigen die Tränen noch in mir auf, ich kann es nicht verhindern. Das Kind in der Kraxe verfolgt mich in Bildern, das Wort "das Wesentliche". Ich trabe weiter, versuche mich wieder in den Lauf zu bringen. es fällt mir schwer. Nicht nur körperlich, auch innerlich. Ich merke: wenn mich dieses Bild des Kindes so zum wanken bringt, dann hab ich auf den 60-65km schon ordentlich Federn gelassen; dann hat es mich mehr gekostet, als ich eigentlich gewahr geworden bin.
Weiter. Schnell weiter. Laufen, laufen, laufen...
Dennoch nehme ich dieses Bild in mir mit. Es ist eine wesentliche Situation des Laufes, des Ganzen.
Fast beruhigend monoton zieht der Weg mich wieder in seinen Bann. Fuß vor Fuß, durchaus anstrengend und kräftezehrend. Aber auch beruhigend. Die Bewegung hat etwas beruhigendes. Das Atmen wird zum atmen. Nicht eine Beiläufigkeit, keine Nebensache. Wesentlicher Bestandteil von mir. Hier und jetzt. Dazu kommt die Bewegung des Laufens. Schritt um Schritt. Kombination mit Atem. Aus der Symbiose von Laufen und Atmen ergibt sich ein Gefühl von "Leben" schlechthin. Sicher passt auch gut dazu, dass ich noch nie in meinem Leben so weit an einem Stück gelaufen bin. Ob ich es nun noch vollends schaffe oder nicht, so weit jedenfalls war ich noch nie. Luft einsaugen, Laufen, Luft ausatmen. Diese Abläufe wirken auf mich nicht langweilig oder monoton. Sie fühlen sich an wie der Puls, wie der Fluß, wie der Strom. Wenn darüber gegrübelt wird, welchen tieferen Sinn das Laufen haben mag ("sind alle auf der Flucht vor sich selbst"), dann mag hierin ein ganz wesentliches Sinnempfinden für mich liegen: es lebt. Das Laufen lebt mich.
Die letzte Versorgung bei km65 wird angesteuert, Großwiese / Großparkplatz, Stadionsprecher und Versorgung. Ich stopfe noch irgendwas Letztes in mich, versuche noch immer, nicht stehen zu bleiben. Klappt nicht mehr ganz. Da ich das Schild mit "65" noch nicht gesehen habe, frage ich Passanten, wie weit es denn eigentlich noch sei bis zum Ziel. "8km, fast nur runter" ist die Antwort.
"Scheißdreck" denke ich mir und höre ich mich plötzlich auch laut ausprechen. Nicht weil es noch 8 km bis zum Ziel sind, sondern weil es noch 1,5km bis zum Schild mit "65" sind.
die letzten 3 Kilometer:
Während ich bisher so gut wie nie auf die Uhr geschaut hatte, wird sie auf den letzten Kilometern doch noch außerordentlich wichtig für mich. Vom Gelände her geht es nur noch bergab; wir kommen aus dem Wald heraus, die Zielortschaft Schmiedefeld liegt zu unseren Füßen, ist klar zu erkennen. Dennoch geht es in einem Bogen um die Ortschaft herum, um ins Zielgelände zu gelangen.
Eigentlich wollte ich die letzten Kilometer im gleichen Tempo weiterlaufen wie bisher. Keine Änderung des Systems. Bergab schwimme ich vorne in den Schuhen, sicheres Zeichen für die Wasserblasen, die sich an den Zehen gebildet haben. Ab km70 steht wieder jeden Kilometer ein Schild zur Orientierung. Als ich dieses Schild endlich passiere zeigt meine Uhr etwa eine Laufzeit von 7 Stunden und 45 Minuten an. Da ich unverbraucht und gut in Form für EINEN Kilometer etwa 5 Minuten brauche (=12km/h) wird mir schnell klar, dass es mit der Zeit unter 8h SEHR SEHR eng werden wird. Schließlich bin ich recht ausgelaugt und eigentlich auch gedanklich schon am Ende und im Zieleinlauf. Dennoch liegen noch 2,5km vor mir. Nach 70km Laufpensum sind 2,5km ein Witz, aber nicht, wenn man es plötzlich eilig hat.
Widerwillig gebe ich noch einmal Gas, werd schneller. Noch immer zwischen Wald und Ortschaft queren wir eine Strasse, geht es bald Richtung Ziel. Bereits abgeschlossene Läufer kommen mir vereinzelt entgegen, es kann nicht mehr weit sein. Wann soll ich ansetzen zum endlichen Schlußspurt ? - Ich hatte gedacht ab km71, aber das sind dann noch immer 1,7km bis ins Ziel. Noch 1,7km und ich gebe bereits alles aus dem letzten Korn, was ich noch habe. Wieder treibt es mir die Tränen in die Augen, noch immer einen Kilometer zu Laufen. Ich passiere einen aufgeblasenen Bogen für die Läufer: "Ab hier noch 1.000m bis zum schönsten Ziel der Welt !"
Bisher haben die Beine immer gemacht, was sie sollten. Den Befehl "alles raus !" scheinen sie nicht mehr zu hören. Ich will immer noch schneller werden, aber tatsächlich verkleinert sich der Abstand zu den Läufern vor mir nicht mehr. Entweder sie werden auch schneller, oder ich bleibe trotz aller Bemühungen im gleichen Kriechgang hängen.
Dann höre ich die Sprecher im Zielgelände, und langsam formiert sich am Horizont der Zielbogen, das Zielgelände. Die Zuschauermenge nimmt zu, es komprimiert sich zum Zieleinlauf. Die Route der Supermarathonis fält kurz vor Zielschluß mit der der Marathonis zusammen. Ich spurte rechts, die Marathonis links. Klar versuche ich, meinen Namen in der Ansage auszumachen. Ich spurte nun, mehr geht beim besten Willen nicht. Atmung, Bewegung, Luft, Flüssigkeit, nun alles egal. Alles fliegt irgendwie dem Ziel entgegen, jeder Meter näher "mein Gott, wie weit noch ?!?".
Dann ist sie da, die Ziellinie. Ich durchrenne sie, bleib gleich danach ohne Atem stehen, halte mich an den Knien fest. Stimmengewirr, Mädls überreichen Medallien. Wieder stehen mit die Tränen in den Augen. Langsam sickert es zu mir durch: ich bin im Ziel. Ich habs tatsächlich geschafft. 72,7km gelaufen. 7:56:31 meine Zeit. Mit "7", ohne "8".
Ich gehe zur Seite, lehne mich an eine freie Stelle des Absperrungsgitters, lasse das Herz und die Atmung auch ankommen. Unglaublich. Ich bin da. Ich habs wirklich geschafft. Der Spurt am Ende hat noch was genützt, ich hab es unter 8h geschafft. Gaby hatte 10 Stunden prophezeit. Ich hab 7:56:31. Diese magische Zahlen. Nun also doch, am Ende des Laufes. Hat er seine Bedeutung in Zahlen bekommen, die er während des ganzen Laufes nicht hatte. So sind sie zum i-Tüpfelchen geworden.
Unendlich langsam bewege ich mich zu meinem Beutel, den ich mühsam auf dem Feld suchen muß (bei tausenden anderen Beuteln), finde den Weg zu den Bussen und komme sogar noch an einem kleinen Stand mit Kaffee und Kuchen vorbei. Einen Becher schwarzen Kaffee, heiß, im Gehen, endlosen langsamen kriechen. Meine Beine tun mir weh, aber ich krieche weitere hunderte Meter Richtung der Busse, die mich nach Eisenach zurückbringen werden. schwarzer Kaffee, herrlich.
Meine Urkunde und mein Finisher-T-shirt hab ich auch noch bekommen.
Ich erinnere mich an einen Moment während des letzten Spurtes auf 3km. Ich konnte die Spannung kaum noch aushalten, alles gegeben zu haben und dennoch noch nicht am Ziel zu sein. Bäume, Schranken und schließlich Häuser "flogen" an mir vorüber. Plötzlich dachte ich da "ganz bestimmt mach ich so etwas nie wieder...". Und noch eine halbe Sekunde später setzte ich in Gedanken hinzu "obwohl: das würd ich nun nicht mal sagen !".
Heute, am Donnerstag, 5 Tage nach dem Rennsteiglauf, hab ich mit Hannah meine Standardrunde von 11,3km gelaufen. Sie auf dem Kinderrad, ich zum ersten mal wieder in den Laufschuhen. Das Wort "wesentlich" fiel mir wieder ein.
Ich kann nicht sagen, was ich nächstes Jahr um die Zeit machen werde. Wie fit ich sein kann und wie sich alles entwickelt. Aber die 72,7km auf dem Rennsteig waren ein unvergleichliches Erlebnis. Der schönste Lauf, den ich bisher je gemacht habe. Äußerlich und Innerlich.
Wenn es mir möglich ist, werd ich nächstes Jahr wieder dort hin fahren. Wieder 72,7km. Wieder Wald. Wald, Wald und laufen und laufen und laufen.
Doch, ich freu mich schon drauf.
Freitag, 7.5.2010:
Gegen 17:30 Uhr mache ich mich auf den Weg nach Eisenach. Etwa 240km von Nürnberg aus, 2/3 Autobahn. Bamberg, Coburg und dann in den Thüringer Wald. Die letzten 80km Landstrasse. Tiefer "Osten", einige zusammengefallene Fabrikgebäude. Daneben viel Neues, viele neue Eigenheime.
Bis 21:00 kann ich die Startunterlagen am Marktplatz im Rathaus abholen, sonst wieder am Samstag, ab 4:00 Uhr.
Um 20:00 Uhr hab ich alles in den Händen und muß mich um eine Übernachtung kümmern. Hotels sind mir zu teuer. Im Auto auf irgendeinem Parkplatz in der Nähe des Startplatzes erweist sich als schwierig: alles mit Parkschein, höchtens 3 Stunden. Da Samstag der Lauftag ist klappt das so nicht.
Mit Google-Ausdrucken von Eisenach wurschtel ich mich zum Elisabeth-Gymansium durch. Hier ist die "Massenunterkunft". Für 4€ übernachten mit Frühstück, Klo inklusive. Für 2€ im überfüllten Hof parken. Mach ich - und werd im Auto schlafen. Keine Schnarcher um mich herum. Ich find buchstäblich den vorletzten freien Platz, schön am Rand, alles perfekt. Nach einigem Gewurschtel hab ich heraus, wie ich im Auto ausgestreckt und gemütlich in meinem Schlafsack nächtigen kann. Es folgt ein langes Ritual, in dem ich jeden Gegenstand des Laufes aus den Taschen finger und an eine fixe Position im Auto positioniere - damit ich morgen um 4:30 Uhr auch alles griffbereit habe und nicht mehr suchen muß.
Gegen 22:30 Uhr hab ich dann alles. Rein in den Schlafsack und versuchen zu schlafen. Lange liege ich wach, denke an den Lauf. Ob ich es schaffen werde ? - Irgendwann verstummen die Geräusche um mich herum (Strasse, Türgeklapper der anderen Parkenden) und ich falle in Schlaf bis 2:30 Uhr. Dann wieder Schlaf bis 4:00 Uhr.
Samstag, 8.5.2010
Um 4:00 Uhr stehen die 2 Läufer neben mir im VW-Bus auf. Klar, Kommunikation in voller Lautstärke. Mein Gott, ihr Heinis, habt ihr nicht gerafft, das ihr die Ersten seid ? - Klappe halten ! - Aber nichts dergleichen. Absprachen in Normallautstärke, von wegen Rücksicht. Klappern, Türe auf und zu, etc. Es ist einfach Schluss mit schlafen. Um 4:20 Uhr wühle ich mich aus dem Schlafsack.
Durch das Ritual am Vorabend hab ich alles mit wenigen Handgriffen parat. Ich werde in kurzer Hose laufen, mit meinem Ötztaler-Radmarathon-Trikot (wegen der Trikottaschen, in denen ich meine Taschentücher, meine Sonnebrille und mein Geld mitnehmen werde). Darüber meine GORE-Radweste zusammen mit den GORE-Armlingen. Auf dem Kopf, wie immer, meine ausgelutschte Adidas-Kappe.
Um die Hüfte hab ich meinen Laufgurt: eine Radtrinkflasche mit 0,7l Isogetränk, im kleinen Täschchen ein Powerbar in Cola-Geschmack, ein kleiner weiterer Powerbar in irgendwas als Reserve und zwei Power-Gels.
Auf dem Boden neben dem Auto koche ich mir eine Tasse Espresso mit meinem Gaskocher. Ein Müsli-Riegel und ein Stück Brot sind mein Frühstück, dazu noch einen Banane.
Um 5:15 Uhr fahren wir mit dem Shuttle-Bus zum Marktplatz, wo wir um 5:30 Uhr eintreffen. Eine halbe Stunde Zeit, nicht zu frieren, den Gepäckbeutel mit den Sachen für das Ziel abzugeben (Fleece-Jacke, Handtuch, Wechel-T-shirt) und sich die Mitstarter anzugucken. Nervöses Rumgelaufe in immer kleiner werdenden Kreisen. Der Platz füllt sich, bis etwa knapp 2.000 Starter eingetroffen sind. Die letzten bringen Minuten vor dem Start noch schnell ihre Beutel zu den 4 LKW mit den Gepäcktaschen...
Neben der ganz grausamen Musik (Lieder vom Rennsteig) verkündet der Sprecher auch einige Daten zu den Läufern. So ist der älteste Läufer am Supermarathon 75 Jahre alt, die älteste Läuferin 70 Jahre. Der jüngste Starter ist 20 Jahre alt, die jüngste Läuferin 24 Jahre. Und einige Läufer nehmen heuer zum dreißigsten mal am Rennsteiglauf teil... das werd ich sicherlich nicht tun.
Zum Schluss noch ein kurzes Grußwort von "was-weiß-ich-wem", interessiert mich auch nicht. Dann zählt die Menge herunter "10-9-8...." und mit dem Glockenschlag fällt der Startschuss pünktlich um 6:00 Uhr. Um 6:02 passiere ich die Startlinie, und dann gehts endlich los.
Es ist ein nasser Tag, ohne das Regen fällt. Ganz Eisenach liegt im frühmorgendlichen Nebel, die Straßen sind nass und gespickt mit Pfützen. Kalt ist es nun nicht mehr. Nach einigen wenigen Kurven durch die Innenstadt geht es gleich heraus und in den Wald. Nach wenigen hundert Metern vom Start geht es in die Steigung, die die nächsten 25km andauern wird. Eisenach liegt auf 202 MüdM, der Inselsberg bei km25,5 auf 910 MüdM. Wellenförmig steigt der Weg also bis zu diesem Punkt an. So kurz schon nach dem ersten Start in die Steigung gehen heißt aber auch, dass sich schnell ein erheblicher Rückstau bildet. Zum einen werden die Straßen schnell zu Wegen und Pfaden, zum anderen überraschen mich die meisten Teilnehmerinnen völlig damit, das sie an den Steigungen NICHT mehr LAUFEN, sondern GEHEN. Zuerst verstehe ich nichts. "Kann doch nicht sein, das bei einem Supermarathon etwa 2/3 der Läufer-Innen alles verpeilt haben und nach noch nicht mal einem Kilometer schon gehen müssen ?!?" - aber die Geher in dieser Menge müssen wohl ein System haben, Zufall kann das nicht sein. Da aber Jeder / Jede so lange läuft wie er / sie will und dann unvermittelt auf dem schmalen Weg das Gehen beginnt, sowohl links als auch rechts als auch in der Mitte, wird es schwierig, sich durch das alles durchzuschlängeln. Daher nerven mich die Geher auch in kürzester Zeit, egal welches System sie verfolgen mögen. "Alle jetzt weg da !" denke ich mir und suche mir immer winzigste Durchschlüpfe in der Menge, um eben doch nicht gehen zu müssen. Ich will in meinen Rhythmus und in dem will ich bleiben.
Also: weg da jetzt !
Himmel, ich will LAUFEN und nicht GEHEN !
Zwar habe ich von Beginn an meine Kopfhörer auf den Ohren, aber jetzt noch ohne Musik. Ich rechne mit etwa 8-9h Laufzeit - WENN ich ankomme - also möchte ich mich mit meiner eigenen Beschallung noch zurückhalten.
So langsam sortiere ich mich in meinen Rhythmus, in die Steigungen und kleinen Gefälle; ich komme an im Gelände und im Lauf. Ich kann nicht wirklich sagen, von der Landschaft viel mitbekommen zu haben. Wie ein Film läuft die Umgebung an mir vorbei. Das liegt zum einen an der Beschäftigung mit mir selber, und auch am hartnäckigen Nebel. Bis ins Ziel wird er bleiben; erst im Bus auf der Rückfahrt reist die Wolkendecke auf.
Allerdings ist der sehr schöne Wald und das ein oder andere Nebental zum Teil gut zu erkennen. Es erinnert mich stellenweise stark an der Schwarzwald, wenngleich es hier mehr Mischwald zu geben scheint. Immer wieder tauchen im Nebel großartige Eichen auf. Majestätisch laden ihre Äste aus. Der Weg verändert sich immer wieder. Kurz laufen wir über ein Wiesenstück, dann Trampelpfad, wurzeldurchsetzte Waldwege, Forstwege.
Klimatechnisch läuft es für mich hervorragend. Die Nässe nimmt der Luft die lästigen Pollen, meine Kleidung ist ideal. Die GORE Weste und Armlinge empfinde ich als überragend. Zwar haben sie schon fast unverschämt viel Geld gekostet, sind aber jeden Cent wert. Ich zippe nur leicht am Reißverschluss, und schon stellt sich die Temperatur ideal für mich ein. Weder friere ich noch wird mir zu warm. Alles prima. Sollte es regnen, so würde mich das Material auch vor dem auskühlen schützen, so fern ich nicht stehen bleibe. Werd ich aber nicht, und es kommt auch keine neue Feuchtigkeit heute von oben dazu.
An den Steigungen sortiert sich noch immer alles in Geher und Läufer, wobei die Geher klar in der Überzahl sind. Zwar nerven die mich noch immer ganz erheblich, aber langsam wird es besser mit dem Platz zum Laufen und so geht das "genervt-sein" über in leichte Freude; bergauf ist meine Stärke, und jetzt kann ich es einfach jedem Geher besorgen. Ha ! - die Wirkung der kleinen Freuden (und der kleinen Niederlagen) ist auf dieser Distanz ganz erheblich für mich.
Zwischen all den Gehern kristallisieren sich die Läufer langsam heraus. Unter ihnen auch eine junge Frau, ich schätze mal so um die Anfang Dreißig. Mit ihrer Erscheinung würde sie auch auffallen, wenn sie gegangen wäre. Schmal und schlank, blau-weißes Trikot, kurze blaue Laufhose, weiße Knielinge, Mütze und ein blond geflochtener Zopf.Die Bewegungsabläufe schienen immer gleichbleibend ruhig und harmonisch zu verlaufen, egal welcher Untergrund. Nichts schien schwierig, auch die Brille ist bestimmt nie verrutscht. Immer alles akkurat, im Lot, kraftvoll und auf Gleichklang.
Interessant war auch ihr Partner, in der Kleidung ganz das Gegenteil: Schlabber-T-Shirt, ausgebeulte Sporthose (wie früher in der Schule), und dunkle Sonnenbrille. Später begegnete mir das Paar immer wieder; am Ende waren sie einige Minuten vor mir im Ziel.
Ansonsten sind auf dem Rennsteig verdammt viele "Normalos" unterwegs. Leute, denen man ihren Willen und ihre Ausdauer nicht unbedingt ansehen würde. Leichter Bierbauch, viele im Alter wie ich oder noch älter. Hier bewahrheitet sich der Spruch, wie er auch auf dem Rennrad gilt: alte Leut' mit silbergrauen Haaren und allerwelts-Sportmaterial von vor 30 Jahren sind mit die schärfsten Konkurrenten. Ihre Optik entspricht in keiner Weise ihrem Leistungsvermögen. Statt zappeliger Hektik mit pseudosportlichen Vorbereitungen und Halbwissenschaften gehen da Erfahrung an den Start. Es hat durchaus etwas von "in der Ruhe liegt die Kraft", auch wenn das bei einem solchen Ausdauer- Sportgroßereignis etwas komisch klingen mag. Schließlich ist alles voller Elan und Bewegung.
Der Lauf auf dem Rennsteig verschwimmt für mich in eine zeitlich nicht näher zu definierende Blase aus Erinnerungen an Gefühle und Zustände, nicht aber in Kilometerabschnitte oder Landschaftspunkten.
Kurz gesagt gab es einfach verdammt viel Wald um mich herum. Wunderschönen Wald, der kaum durch Straßen oder Ortschaften unterbrochen wurde. In diese Szenerie eingepflanzt ist ein Bild von gleichmäßig schnell laufenden Menschen um mich herum, von denen ich meist die Füße in Erinnerung habe. Ein pulsierendes Etwas um mich, ich selber auch im Puls von Bewegung, Atmung. Rundes Laufen, nichts als Laufen.
In der Vorbereitung auf den Lauf habe ich nur einen Bericht im Internet gelesen; dort lief ein etwas Jüngerer in einer etwas schnelleren Zeit, 7:30h glaube ich, auch zum ersten mal. Er beschreibt dort, "irgendwann trennt sich der Geist vom Körper. Während unten der Körper ganz mit Arbeit und mit Laufen beschäftigt ist, hebt der Geist ab und betrachtet das Ganze aus einer anderen Perspektive...". So oder so ähnlich hat er es formuliert. Ich konnte mir das gut vorstellen, und so ein wenig habe ich auf diesen Moment dann immer gewartet. Doch während des Laufes habe ich es so nicht empfunden. Ich war viel zu beschäftigt. Nicht nur damit, einen Fuß vor den anderen zu setzen, sondern mit einer Unzahl von Bagatellen und Kleinigkeiten, die aber wiederum alle ganz wichtig sind und unmittelbar auf das Laufgefühl ausstrahlen: die Kappe zurechtrutschen, einen Schluck trinken (dazu die Flasche während dem Laufen aus der Halterung angeln und anschließend wieder sicher hinein), ein Stück Powerbar abbeißen und langsam zergehen lassen, die Kilometertafeln im Auge behalten, im Trikot nach der Plastiktüte fingern, in der das Geld und das Rückfahrtticket sitzt, die unmittelbare Wegstrecke einschätzen und Hindernissen ausweichen (Steinen, Wurzeln, Pfützen), den Puls kontrollieren, die Weste ideal temperieren durch den Reißverschluss, den Rotz aus der Nase pusten und dabei vorher umsehen, dass niemand getroffen wird. Die nächste Versorgung anvisieren und kurz vorher noch ein Stück Powerbar abbeißen, damit man dann gleich mit Wasser oder Tee nachspülen kann. Die Zeit vergleichen und in etwa hochrechnen, welche Finisherzeit momentan dann zu erreichen wäre. Bäume angucken, Mitstreiter angucken, in sich horchen. Gedanken nachhängen. Sich selbst motivieren.
Bis zur Mitte des Rennens wollte ich ohne großes Denken erst mal einen normalen Marathon bewältigen (also km42) und mir dann Gedanken über das Neuland machen, in das ich mich da bei den weiteren 30km begeben habe.
Ziemlich genau in der Mitte gab es eine Versorgungsstation auf einer Wiese, bei der ich zwar alles noch im Laufschritt geangelt habe, ohne anzuhalten, aber kurz nach dem Verzehr dann bewusst angehalten habe und mir einen Baum abseits zum pinkeln aussuchte. Da war mir zum ersten mal klar, dass ich zumindest die Marathondistanz klar erreichen werde, und das ich überdies noch sehr gut dabei bin: ich fühlte mich angestrengt, aber grundsätzlich prima. Keine Beschwerden, kein Drücken, kein nichts. Einfach Wald und Laufen. Also weiter.
Die blonde Läuferin begegnete mir immer wieder. Einmal hielt sie am Wegesrand und schaute "not amused" nach hinten, wo ihr Partner/Begleitschutz abgeblieben sein möge. Sie band ihren Schuh neu und überholte mich später wieder mir ihrem Partner. "Wipp wipp wipp", wie auf den ersten Kilometern. Faszinierende Gleichförmigkeit und Ästhetik in der Bewegung. "WIPP WIPP WIPP" und weg, verschwunden aus dem konzentrischen Kreis der Bewegungen um mich herum und in mir drin. Verschluckt im Wald und im Nebel.
Mit anderen Läufern teilte ich mir ein Stück des Weges, ohne es zu wissen. Man sieht sich, begegnet sich; man erkennt sich an der Kleidung, am Laufstil. Wer konnte an der letzten Steigung noch an mir vorbeigehen, wo sehe ich den wieder, wo kann ich ihn oder sie sogar noch einholen.
Eine andere Läuferin hatte zum Beispiel den Schriftzug "ich folge Jesus" auf ihrem Laufhemd stehen. Hinten drauf. Ich sah es erst, als sie mich überholte. Spontan dachte ich mir "ich nicht !", aber warum auch nicht. Warum sollte man nicht Jesus auf dem Rennsteig folgen. Ich freute mich, als ich die Läuferin wieder überholen konnte (und ich könnte im Nachhinein schwören, ich hörte dabei METALLICA "and nothing else matters...") und sie zog einige Kilometer vor dem Ziel, so etwa bei km55 wieder an mir vorbei. Endgültig. Sie war eindeutig schneller als ich.
Inzwischen haben sich die "Nordic-Walking-TeilnehmerInnen" auch auf der Strecke des Rennsteiges unter die Läufer gemischt. Wie kleine Wandertrupps sind sie unterwegs, manche mit Sportausrüstung und ausladenden Schritten, manche joggen sogar ein Teil des Weges. Nurmehr alle 5 Kilometer trägt ein Schild die Anzahl der zurückgelegten Entfernung.
Nachdem auch die Walkergruppe aufgetaucht, mitgelaufen und "tröpfchenweise" wieder aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, wird es wieder ruhig in mir. Ich bewege mich irgendwo zwischen km50 und km60. Langsam und allmählich wird es hart. Ich ertappe mich dabei, dass mein Blick immer häufiger zum (begrenzten) Horizont eilt. Das ist für mich ein sicheres Zeichen für Gedanken wie "wie weit ist es noch ?". Diese Gedanken zersetzen die Bereitschaft, im Lauf zu bleiben, drann zu bleiben und nicht anzuhalten. Deswegen tilge ich sie gleich wieder aus dem Bewusstsein. Ich seh nicht nach vorn sondern nach unten auf den Boden vor mir. Ich höre in die Musik hinein, die ich auf dem Kopf habe und blicke seitwärts, um mir die Bäume anzusehen.
Wenn nun kleinere Steigungen auf der Wegstrecke auftauchen, dann beginnen alle Läufer um mich, aus dem Laufen in das Gehen umzuschalten, bis die Steigung überwunden ist. Auch ich mache das so inzwischen. Fast schon sind mir die Steigungen mit dem Gehen willkommen, denn sie verweisen: GEHEN dürfen. Allerdings wird es immer anstrengender, aus dem Gehen wieder in Laufen zu wechseln. An einigen Stellen der Beine spüre ich, wie sie müde werden. Sie tun, was ich ihnen sage, aber sie melden zurück: "nun is aber auch bald mal gut". Keine Schmerzen, keine Belastungen, dumpfe Müdigkeit steigt in ihnen zu mir hoch in den Kopf. Auch das: gleich wieder tilgen. Erst gar nicht zulassen. Weg mit dem Gedanken. "Ich laufe. Ich werde laufen. Weiter..." und sofort wieder in den Lauf. Noch vor den anderen an der Steigung. Ich nehme mir vor, an der nächsten Steigung nicht wieder ins Gehen zu verfallen.
Irgendwann läuft "CREED" auf meinem IPOD, mit dem Lied "time". Obwohl es meine Atmung gefährlich aus dem Rhythmus bringen kann, kann ich nicht anders: stellenweise singe ich während dem Laufen mit, so laut wie ich kann:
"pieces of me i have lost...
without any choice i am the one...
hey time, you 're no friend of mine...
its so very clear,
you left me with noone at all...
will you be there when i stumble when i fall
who will be there
to catch me when i stumble, when i fall, when i fall...
this time i have nothing left to lose...
hey time, you're no friend of mine..."
Nach km60 komme ich an eine kleine Versorgung an einem Holzhäuschen im Wald. Breiter Waldweg, "Waldautobahn". Nur zwei, drei LäuferInnen vor mir. Am Häuschen die nette Versorgung und eine Familie mit ihren kleinen Kindern. Sitzen dort auf einer Bank und staunen über die Menge, die hier schon durchgetrabt sein muß. Das kleine Kind sitzt in der Kraxe, am Boden. Offenbar ist der Kleine eingeschlafen, die Augen geschlossen, der Kopf zur Seite geneigt. Wie Hannah und Sophie, damals bei uns. Das große Kind, ein Mädchen von 5-6 Jahren sitzt auf der Bank neben ihrem Vater und ißt irgendwas. Brötchen mit Wurst, so wie bei uns. Als ich zur Szene komme, nach Tee und Wasser hastend bei der Versorgung, schnell alles in mich reinkippe und mich schnellstmöglich weitermachen möchte, fällt mir die Familie auf; besonders das kleine Kind in der Kraxe. Eingeschlafen. Mitten im Wald, in der Kraxe. Wald, Nebel, Nässe. Tausende Verrückte, die durch den Wald hasten. Das Kind in Sicherheit. Eingeschlafen. irgendwie würde ich dem Vater nun gerne sagen, das er gerade dabei ist, mit seinen Kindern das eigentlich wesentliche im Leben zu erleben. Ich versuche einen Satz zu bilden wie "das ist eigentlich das Wesentliche" (und nicht das was ICH gerade hier mache). Aber statt Worten kommt nur ein dicker Klos in mein Hals. Tränen steigen mir in die Augen. Ich muß schnell weiter, ohne ein Wort. Trotzdem steigen die Tränen noch in mir auf, ich kann es nicht verhindern. Das Kind in der Kraxe verfolgt mich in Bildern, das Wort "das Wesentliche". Ich trabe weiter, versuche mich wieder in den Lauf zu bringen. es fällt mir schwer. Nicht nur körperlich, auch innerlich. Ich merke: wenn mich dieses Bild des Kindes so zum wanken bringt, dann hab ich auf den 60-65km schon ordentlich Federn gelassen; dann hat es mich mehr gekostet, als ich eigentlich gewahr geworden bin.
Weiter. Schnell weiter. Laufen, laufen, laufen...
Dennoch nehme ich dieses Bild in mir mit. Es ist eine wesentliche Situation des Laufes, des Ganzen.
Fast beruhigend monoton zieht der Weg mich wieder in seinen Bann. Fuß vor Fuß, durchaus anstrengend und kräftezehrend. Aber auch beruhigend. Die Bewegung hat etwas beruhigendes. Das Atmen wird zum atmen. Nicht eine Beiläufigkeit, keine Nebensache. Wesentlicher Bestandteil von mir. Hier und jetzt. Dazu kommt die Bewegung des Laufens. Schritt um Schritt. Kombination mit Atem. Aus der Symbiose von Laufen und Atmen ergibt sich ein Gefühl von "Leben" schlechthin. Sicher passt auch gut dazu, dass ich noch nie in meinem Leben so weit an einem Stück gelaufen bin. Ob ich es nun noch vollends schaffe oder nicht, so weit jedenfalls war ich noch nie. Luft einsaugen, Laufen, Luft ausatmen. Diese Abläufe wirken auf mich nicht langweilig oder monoton. Sie fühlen sich an wie der Puls, wie der Fluß, wie der Strom. Wenn darüber gegrübelt wird, welchen tieferen Sinn das Laufen haben mag ("sind alle auf der Flucht vor sich selbst"), dann mag hierin ein ganz wesentliches Sinnempfinden für mich liegen: es lebt. Das Laufen lebt mich.
Die letzte Versorgung bei km65 wird angesteuert, Großwiese / Großparkplatz, Stadionsprecher und Versorgung. Ich stopfe noch irgendwas Letztes in mich, versuche noch immer, nicht stehen zu bleiben. Klappt nicht mehr ganz. Da ich das Schild mit "65" noch nicht gesehen habe, frage ich Passanten, wie weit es denn eigentlich noch sei bis zum Ziel. "8km, fast nur runter" ist die Antwort.
"Scheißdreck" denke ich mir und höre ich mich plötzlich auch laut ausprechen. Nicht weil es noch 8 km bis zum Ziel sind, sondern weil es noch 1,5km bis zum Schild mit "65" sind.
die letzten 3 Kilometer:
Während ich bisher so gut wie nie auf die Uhr geschaut hatte, wird sie auf den letzten Kilometern doch noch außerordentlich wichtig für mich. Vom Gelände her geht es nur noch bergab; wir kommen aus dem Wald heraus, die Zielortschaft Schmiedefeld liegt zu unseren Füßen, ist klar zu erkennen. Dennoch geht es in einem Bogen um die Ortschaft herum, um ins Zielgelände zu gelangen.
Eigentlich wollte ich die letzten Kilometer im gleichen Tempo weiterlaufen wie bisher. Keine Änderung des Systems. Bergab schwimme ich vorne in den Schuhen, sicheres Zeichen für die Wasserblasen, die sich an den Zehen gebildet haben. Ab km70 steht wieder jeden Kilometer ein Schild zur Orientierung. Als ich dieses Schild endlich passiere zeigt meine Uhr etwa eine Laufzeit von 7 Stunden und 45 Minuten an. Da ich unverbraucht und gut in Form für EINEN Kilometer etwa 5 Minuten brauche (=12km/h) wird mir schnell klar, dass es mit der Zeit unter 8h SEHR SEHR eng werden wird. Schließlich bin ich recht ausgelaugt und eigentlich auch gedanklich schon am Ende und im Zieleinlauf. Dennoch liegen noch 2,5km vor mir. Nach 70km Laufpensum sind 2,5km ein Witz, aber nicht, wenn man es plötzlich eilig hat.
Widerwillig gebe ich noch einmal Gas, werd schneller. Noch immer zwischen Wald und Ortschaft queren wir eine Strasse, geht es bald Richtung Ziel. Bereits abgeschlossene Läufer kommen mir vereinzelt entgegen, es kann nicht mehr weit sein. Wann soll ich ansetzen zum endlichen Schlußspurt ? - Ich hatte gedacht ab km71, aber das sind dann noch immer 1,7km bis ins Ziel. Noch 1,7km und ich gebe bereits alles aus dem letzten Korn, was ich noch habe. Wieder treibt es mir die Tränen in die Augen, noch immer einen Kilometer zu Laufen. Ich passiere einen aufgeblasenen Bogen für die Läufer: "Ab hier noch 1.000m bis zum schönsten Ziel der Welt !"
Bisher haben die Beine immer gemacht, was sie sollten. Den Befehl "alles raus !" scheinen sie nicht mehr zu hören. Ich will immer noch schneller werden, aber tatsächlich verkleinert sich der Abstand zu den Läufern vor mir nicht mehr. Entweder sie werden auch schneller, oder ich bleibe trotz aller Bemühungen im gleichen Kriechgang hängen.
Dann höre ich die Sprecher im Zielgelände, und langsam formiert sich am Horizont der Zielbogen, das Zielgelände. Die Zuschauermenge nimmt zu, es komprimiert sich zum Zieleinlauf. Die Route der Supermarathonis fält kurz vor Zielschluß mit der der Marathonis zusammen. Ich spurte rechts, die Marathonis links. Klar versuche ich, meinen Namen in der Ansage auszumachen. Ich spurte nun, mehr geht beim besten Willen nicht. Atmung, Bewegung, Luft, Flüssigkeit, nun alles egal. Alles fliegt irgendwie dem Ziel entgegen, jeder Meter näher "mein Gott, wie weit noch ?!?".
Dann ist sie da, die Ziellinie. Ich durchrenne sie, bleib gleich danach ohne Atem stehen, halte mich an den Knien fest. Stimmengewirr, Mädls überreichen Medallien. Wieder stehen mit die Tränen in den Augen. Langsam sickert es zu mir durch: ich bin im Ziel. Ich habs tatsächlich geschafft. 72,7km gelaufen. 7:56:31 meine Zeit. Mit "7", ohne "8".
Ich gehe zur Seite, lehne mich an eine freie Stelle des Absperrungsgitters, lasse das Herz und die Atmung auch ankommen. Unglaublich. Ich bin da. Ich habs wirklich geschafft. Der Spurt am Ende hat noch was genützt, ich hab es unter 8h geschafft. Gaby hatte 10 Stunden prophezeit. Ich hab 7:56:31. Diese magische Zahlen. Nun also doch, am Ende des Laufes. Hat er seine Bedeutung in Zahlen bekommen, die er während des ganzen Laufes nicht hatte. So sind sie zum i-Tüpfelchen geworden.
Unendlich langsam bewege ich mich zu meinem Beutel, den ich mühsam auf dem Feld suchen muß (bei tausenden anderen Beuteln), finde den Weg zu den Bussen und komme sogar noch an einem kleinen Stand mit Kaffee und Kuchen vorbei. Einen Becher schwarzen Kaffee, heiß, im Gehen, endlosen langsamen kriechen. Meine Beine tun mir weh, aber ich krieche weitere hunderte Meter Richtung der Busse, die mich nach Eisenach zurückbringen werden. schwarzer Kaffee, herrlich.
Meine Urkunde und mein Finisher-T-shirt hab ich auch noch bekommen.
Ich erinnere mich an einen Moment während des letzten Spurtes auf 3km. Ich konnte die Spannung kaum noch aushalten, alles gegeben zu haben und dennoch noch nicht am Ziel zu sein. Bäume, Schranken und schließlich Häuser "flogen" an mir vorüber. Plötzlich dachte ich da "ganz bestimmt mach ich so etwas nie wieder...". Und noch eine halbe Sekunde später setzte ich in Gedanken hinzu "obwohl: das würd ich nun nicht mal sagen !".
Heute, am Donnerstag, 5 Tage nach dem Rennsteiglauf, hab ich mit Hannah meine Standardrunde von 11,3km gelaufen. Sie auf dem Kinderrad, ich zum ersten mal wieder in den Laufschuhen. Das Wort "wesentlich" fiel mir wieder ein.
Ich kann nicht sagen, was ich nächstes Jahr um die Zeit machen werde. Wie fit ich sein kann und wie sich alles entwickelt. Aber die 72,7km auf dem Rennsteig waren ein unvergleichliches Erlebnis. Der schönste Lauf, den ich bisher je gemacht habe. Äußerlich und Innerlich.
Wenn es mir möglich ist, werd ich nächstes Jahr wieder dort hin fahren. Wieder 72,7km. Wieder Wald. Wald, Wald und laufen und laufen und laufen.
Doch, ich freu mich schon drauf.
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